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2018
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Gemeinsame Pressemitteilung der Kreisverwaltung Marburg-Biedenkopf, des Rhein-Main-Verkehrsverbundes (RMV) und des Diakonischen Werkes Marburg-Biedenkopf
Neues Ticket sichert den Anschluss
„Miteinanderticket“ unterstützt Mobilität von Menschen mit niedrigem Einkommen
Marburg-Biedenkopf – Am Donnerstag (30. August 2018) haben der Erste Kreisbeigeordnete Marian Zachow, Thomas Kern vom Rhein-Main-Verkehrsverbund (RMV) sowie Ulrich Kling-Böhm vom Diakonischen Werk Marburg-Biedenkopf das „Miteinanderticket Marburg-Biedenkopf“ vorgestellt.
Menschen, die Sozialleistungen beziehen, können das „Miteinanderticket solidarisch“ nutzen. Daneben richtet sich das „Miteinanderticket individuell“ an Menschen, die trotz eines geringen Einkommens keine Fahrtkostenzuschüsse des KreisJobCenters (KJC) oder der Arbeitsagentur bekommen. Zudem können Mitarbeitende der Arbeiterwohlfahrt (AWO), der Caritas, der Diakonie, des DRK, des Paritätischen und der jüdischen Gemeinde das „Mitarbeiterticket individuell“ erwerben.
„Mit der Einführung des ,Miteinandertickets solidarisch‘ schaffen wir eine neue Möglichkeit der Mobilität, um auch Menschen mit geringem Einkommen die Fahrt zum Einkauf, zum Arzt- oder Verwandtenbesuch, zur Aus- und Fortbildung oder auch zur Teilnahme an kulturellen und gesellschaftlichen Veranstaltungen zu ermöglichen“, erläuterte der Erste Kreisbeigeordnete Marian Zachow. Gerade in einer ländlichen Region wie Marburg-Biedenkopf müsse darauf geachtet werden, dass Menschen in Sachen der Mobilität nicht den Anschluss verlören.
„Von dem Miteinanderticket profitiert die Arbeit der sozialen Träger gleich in zweifacher Weise: Die Angebote machen Menschen mit niedrigeren Einkommen mobiler und geben Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sozialer Träger einen preislichen Anreiz, zum RMV-Stammkunden zu werden“, so RMV-Geschäftsführer Prof. Knut Ringat.
Das „Miteinanderticket solidarisch“ funktioniert als Leihsystem und kann für jeweils eine Woche gegen ein Pfand von zehn Euro in Ausgabestellen des Diakonischen Werkes Marburg-Biedenkopf ausgeliehen werden. Hierzu berechtigt sind all diejenigen, die etwa Wohngeld, eine Grundsicherung für Arbeitsuchende oder Sozialhilfe beziehen. Gleiches gilt für die Inhaber des Marburger Stadtpasses, eines Ladenausweises des Diakonischen Werks Marburg-Biedenkopf oder des Tafelausweises. „Selbst wenn dies nicht vorliegt, besteht noch die Möglichkeit, eine Berechtigung durch eine Einkommensprüfung nachzuweisen“, sagte Diakoniepfarrer Ulrich Kling-Böhm, der geschäftsführende Vorstand des Diakonischen Werkes Marburg-Biedenkopf.
Als preisreduzierte Jahreskarte für Erwachsene ist das „Miteinanderticket individuell“ konzipiert. Etwa 18 Prozent lassen sich gegenüber dem regulären Preis einer Jahreskarte sparen. Ansonsten richtet sich der Preis nach den entsprechenden Preisstufen der regulären Preise. Zudem gilt für beide Angebote auch die RMV-Mitnahmeregelung: täglich ab 19:00 Uhr sowie ganztags an Wochenenden und Feiertagen können ein Erwachsener und beliebig viele Kinder unter 15 Jahren mitgenommen werden. Mit beiden Tarifangeboten können alle RMV-Verkehrsmittel genutzt werden. Hierzu gehören Busse und Regionalzüge, ebenso wie Anruf-Sammel-Taxi-Angebote. Für den Fernverkehr, wie z.B. ICE und IC, gelten die Miteinandertickets nicht.
Das Angebot hat zunächst eine Laufzeit von einem Jahr und folgt einem Vorschlag des Diakonischen Werkes Marburg-Biedenkopf sowie der Liga der freien Wohlfahrtspflege. Beide haben gemeinsam mit dem Rhein-Main-Verkehrsverbund und dem Landkreis Marburg-Biedenkopf gleich mehrere Angebote geschaffen.
Gefördert wird das Projekt durch Mittel der Diakonie Hessen. „Gerne haben wir uns als Koordinationsstelle in dieses Projekt eingeklinkt“, sagte Kling-Böhm. „Ich freue mich, dass es uns hier vor Ort in guter Zusammenarbeit gemeinsam gelungen ist, das Angebot so zügig zu erarbeiten und umzusetzen“, betonte Zachow.
Bestellformulare für das „Miteinanderticket individuell“ finden sich in den Geschäftsstellen des Diakonisches Werkes in Biedenkopf (Mühlweg 23), Marburg (Haspelstraße 5), Stadtallendorf (Am Bahnhof 10) und in Gladenbach (Marktstraße 7).
Interessenten für das „Miteinanderticket solidarisch“ können sich an folgende Ausgabestellen des Diakonischen Werks Marburg-Biedenkopf wenden:
Marburg, Haspelstraße 5 (Telefon: 06421 91260); Biedenkopf, Mühlweg 23 (Telefon: 06461 95400); Gladenbach, Marktstraße 7 (Telefon: 06462 6558); Stadtallendorf, Am Bahnhof 10 (Telefon: 06428 7333).
Auch die Sozialberatungsstellen der Caritas, der B I – Der Treff, des BSF Richtsberg und der LOK in Marburg, Stadtallendorf und Biedenkopf stehen beratend zur Verfügung.
Weitere Informationen bietet das Diakonische Werk unter der Telefonnummer 06461 95400 sowie per E-Mail an dw.marburg-biedenkopf@ekkw.de.
2017
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Seit 2001 ist jede Bundesregierung aufgefordert, zur Mitte ihrer Legislaturperiode einen Armuts- und Reichtumsbericht vorzulegen. Die schwarz-rote Koalition tat dies mit einer rekordverdächtigen Verspätung von eineinhalb Jahren im Frühjahr 2017. Mit knapp 650 Seiten, denen eine Kurzfassung mit den wichtigsten Ergebnissen und Erkenntnissen vorausgeht, ist der Bericht nicht nur ausführlich, sondern für die Leserinnen und Leser ungemein beschönigend. Ein Drama.
Be(nach)teiligung – Eine Tragödie in fünf Akten
Regieanweisungen zum Haupttext
Erster Akt
Deutschland geht es gut, die Wirtschaft prosperiert. Die Arbeitslosigkeit sowie die Menschen, die unter materieller Entbehrung leiden, sind gering. Das Risiko zu verarmen, ist niedrig allenfalls vergleichsweise etwas erhöht. Die Gesamtsituation scheint zufriedenstellend, wenngleich gewisse Bevölkerungsschichten gelegentlich ‚aufmucken‘.
Zweiter Akt
Das gesellschaftliche Leben geht seinen Gang. Die Armen sind arm, die Reichen sind reich. Die Mitte ist Mitläufer. Nichts Neues.
Dritter Akt
Deutschland als Leistungsgesellschaft. Soziale Teilhabe- und Aufstiegschancen sind extrem vom Einkommen abhängig. Es kursieren Sorgen, den Modernisierungsprozessen nicht folgen zu können. Konkurrenz durch Geflüchtete um Arbeitsplatz, Wohnraum und Kultur. Kinder und Jugendliche als besonders Leittragende der 180-Grad-gespreizten Schere zwischen Arm und Reich.
Vierter Akt
Kinderarmut wird registriert. Das gesellschaftliche Leben geht seinen Gang. Die Armen sind arm, die Reichen sind reich. Die Mitte ist Mitläufer. Nichts Neues.
Fünfter Akt
Die Befunde eines von der Regierung vorgelegten Berichtes sind eindeutig: „Nur wenige Kinder leiden jedoch unter erheblichen materiellen Entbehrungen“.
Doch keine Tragödie? Wie sehr hinsichtlich der Kinderarmut von einer Tragödie gesprochen werden kann, zeigen zahlreiche Befunde des Berichtes, die trotz der milden und schwammigen Formulierung wie in Akt fünf allzu besorgniserregend sind. Konkret geht es bei den „wenige[n] Kindern“ um mehr als 600.000, die in absoluter Armut leben. Bis zu 2,7 Millionen Kinder leben in Haushalten mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. So haben arme Kinder nicht nur weniger Geld als ihre wohlhabenderen Altersgenossen – sie treiben weniger Sport und sind seltener in Sportvereinen, sie sind eindeutig häufiger übergewichtig oder gar fettleibig, sie wohnen häufiger in lauter, verschmutzter und gefährlicher Umgebung, erfahren häufiger Gewalt und weisen deutlich häufiger psychische Auffälligkeiten auf. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass solche Umstände die Zukunft der betroffenen Kinder maßgeblich beeinflussen. Nicht erst seit Bourdieus und Passerons Studien „Die Illusion der Ungleichheit“ von 1961/62 (übertragbar auf das deutsche Schulsystem mit Selektionsmechanismen) oder den Ergebnissen aus PISA ist klar, dass arme Kinder im Bildungswesen deutlich schlechter abschneiden. Ihre Chancen, den Aufstieg zu schaffen, sind beschränkt. Auch ein Bericht der OECD besagt, dass in keinem anderen westlichen Land die Herkunft für Bildung eine so große Rolle spielt:
„Ein sozialer Aufstieg mit besserer Bildung ist in Deutschland nach wie vor schwer. Laut dem jüngsten OECD-Bildungsbericht erreichen 22 Prozent der jungen Menschen in der Bundesrepublik nicht das Bildungsniveau ihrer Eltern. Nur 20 Prozent der Jüngeren schaffen einen höheren Bildungsabschluss, als ihn Vater oder Mutter besitzen.“ (Die Zeit, 11.09.2012)
Der finanzielle Abstand zwischen Kindern mit Hartz IV-Bezug und ihren Altersgenossen ist riesig. So sind Dinge wie Sport im Sportverein, Musikunterricht, Kino, Theater oder Nachhilfe nicht finanzierbar. Dinge bleiben außen vor, die dabei helfen würden, im späteren Leben der Armut den Rücken zu kehren. Um dieser Benachteiligung entgegenzuwirken, wurde 2011 das Bildungspaket verabschiedet, dessen Zuschüsse die betroffenen Kinder (auf Antrag) für Mittagessen, Musikschule, Klassenfahrten, Sportverein oder Nachhilfe in Anspruch nehmen können. Klingt gut, klappt aber nicht: Die Beantragung ist derart kompliziert, sodass die Hürden zu hoch und die Zuschüsse für eine Beantragung zu niedrig sind. Der Armuts- und Reichtumsbericht formuliert daher das Ziel, das Bildungspaket hinsichtlich der Hürden zu überprüfen und insgesamt bekannter zu machen. Endlich.
Dass ein solcher Armuts- und Reichtumsbericht angegangen, verfasst und publiziert wird, ist von immenser Wichtigkeit. Dass die dort identifizierten Herausforderungen nicht innerhalb kürzester Zeit gemeistert werden können, ist nachvollziehbar. Doch solange die Regieanweisung aus dem zweiten Akt Bestand hat, kann aus einer Tragödie niemals eine Komödie mit einem Happy End werden.
Die Kulturloge Marburg fordert daher eine wirkliche und tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Thema Kinderarmut und den Auswirkungen für Kinder und Jugendliche und ihre Chancen für ihre weitere Entwicklung.
Ein Gastbeitrag von Lukas Stitz